Heute wäre normalerweise Gottesdienst in Nikodemus. Lassen Sie für sich die Nikodemus-Glocke läuten!
Zum heutigen Sonntag nimmt uns Herr Pastor i.R. Friedrich Helms mit auf eine musikalische Reise durch ein Werk von Johann Sebastian Bach. Reisen Sie mit!
Für diejenigen unter Ihnen, die es heute einmal genau mitverfolgen möchten, haben wir den Notensatz nachfolgend vollständig angefügt.
Andere sagen jetzt vielleicht: Notenlesen ist nichts für mich. Das macht gar nichts! Genießen Sie einfach die wunderbare Musik und nehmen Sie sie einfach mit den Ohren und dem Herzen auf.
Wir hören zunächst das Werk, gespielt von Dietmar Zeretzke an der Orgel der Petrikirche.
Foto: Peter Rendschmidt
Liebe Gemeinde in Petri und Nikodemus,
ich vermisse wie wohl viele von uns auch das Orgelspiel in unseren Kirchen. Ich möchte Sie deshalb heute einladen, sich mit mir auf eine musikalische Reise mit Bachs Orgelchoral BWV 726 „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend‘“ zu begeben.
Johann Sebastian Bach wurde 1703, gerade erst 18, mit der Abnahme der neuen Orgel in der Bonifatiuskirche in Arnstadt betraut und begeisterte den Kirchenvorstand (das Konsistorium) so, dass er Bach gleich als Organisten anstellte.
Zwei Jahre später ließ er sich im Herbst 1705 für einen Monat beurlauben, um nach Lübeck zu reisen und sich dort bei Dieterich Buxtehude weiterzubilden. Den Urlaub dehnte er um weitere drei Monate aus und kehrte erst Anfang 1706 auf seinen Posten nach Arnstadt zurück.
Alsbald wendet er das Gelernte bei der Begleitung der Choräle an. Die Gemeinde sang langsam, wie es manche Ältere von uns vielleicht noch aus ihrer Jugend hier erinnern, und machte nach jeder Choralzeile eine Atem- und Besinnungspause. Bach füllte das mit kurzen Zwischenspielen aus, die aber die Gemeinde irritierten. Bach wird also, inzwischen fast zwanzig, vor den Kirchenvorstand zitiert und ihm wird neben seinem verlängerten Urlaub sein neues Orgelspiel vorgeworfen. Im erhaltenen Sitzungsprotokoll heißt es:
„Nos (wir) halten ihm vor, dass er bisher in dem Choral viele wunderliche Variationen gemacht, viele fremde Töne eingemischt (habe), dass die Gemeinde darüber confundiert (verwirrt) worden (sei). Er habe in Zukunft, wenn er je einen tonum peregrinum (fremden Ton) hineinbringen wolle, selbigen auch auszuhalten und nicht zu geschwinde auf etwas anderes zu (ver-)fallen oder, wie er bisher in Brauch gehabt, sogar einen tonum contrarium (einen gegensätzlichen Ton) zu spielen.“
Ich finde, gerade am Beispiel dieses Orgelchorals hat Bach seine Kunst genutzt, um musikalisch seinen Glauben auszudrücken und zu vermitteln. Lassen Sie uns miteinander dazu einen Blick in Bachs Werkstatt werfen. Er konnte an der Melodie des Liedes ja nichts ändern, aber er kann besonders mit der tiefen Gegenstimme im Bass etwas sagen.
Wenn wir dem Choralsatz die Worte der ersten Strophe beifügen, wird das deutlich. Bach erhebt „Jesu Christ“ in eine hohe Lage, um bei „dich zu uns send“ die Stimme nach unten zu führen. Bei dem Wort „uns“ ist der tiefste Ton, das große E, erreicht: wir befinden uns ganz unten.
Gleich danach verschärft Bach die nur leicht ansteigende Melodie, indem er dem Tenor bei der Bitte „wend“ die Septime zuweist und ihr so Nachdruck verleiht. Die Dissonanz der Septime fordert Auflösung, Fortführung, Erfüllung.
Nun kommt das erste der drei Zwischenspiele. – Kann Bach damit meinen, was uns – auch wohl manchmal im Gottesdienst, bei unruhigen Gedanken im Schlaf oder tagsüber – durch den Kopf geht und beschäftigt?
Während die Melodie bei „dein heilgen Geist“ sich senkt, hebt Bach die Unterstimmen an, um sie erst wieder bei „zu uns send“ herab zu führen.
Nach dem nächsten Zwischenspiel hatte die Gemeinde wohl schon Probleme, wieder mit dem richtigen Ton einzusetzen. Im Bass führt Bach mit chromatisch aufsteigenden Tönen vor, wie der heilige Geist uns Schritt für Schritt zu Hilfe kommt und uns aus der Tiefe führt.
Doch dann zeigt sich: Wir sind immer noch ganz unten! Statt dass Bach die Tonfolge vom kleinen fis aus weiter nach oben zum eingestrichenen gis fortsetzt, geht er genau bei dem Wort „uns“ in die Oktave nach unten: Wir sind immer noch in unseren Tiefen, entfernt von Gott.
Wenn wir danach abgesehen vom Zwischenspiel den Bass betrachten, fällt auf, dass der folgende Sprung vom großen H zum F ein klassischer Tritonus ist, der sogenannte „diabolus in musica“ (der "Teufel in der Musik", d.Red.). Er taucht z.B. auch in Brahms‘ Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen“ bei dem Wort „Licht“ auf und macht deutlich, dass dem Mühseligen das Licht wohl nur gebrochen erscheint.
So macht Bach deutlich, dass Böses, Unglaube, Verzweiflung und Not bei uns herrschen. Und dann steigt der Bass noch einen Ton tiefer vom großen F zum E: Wir sind immer noch genau dort unten wie in der ersten Choralzeile.
Von dort führt uns der heilige Geist den Weg zur Wahrheit Stufe für Stufe empor – würde man die Intervalle jeweils aushalten, gäbe es neben Harmonien auch viel Disharmonie und Missklang. Das alles, Unstimmigkeiten wie Zusammenklang, gehört zur Wahrheit hinzu. Sie umfasst alles, wie zum Schluss die Oktave D-d klarstellt. So bringen Jesus Christus und sein heiliger Geist alles zu einem guten Ende.
Möge die augenblickliche Krise auch in nicht zu langer Zeit ein gutes Ende nehmen!
Ihr Friedrich Helms, Pastor i.R.
Wir hören zum Abschluss den Choral "Herr Jesu Christ, dich zu uns wend". Wenn Sie mögen, singen Sie gerne mit!
1. Herr Jesu Christ, dich zu uns wend,
dein’ Heilgen Geist du zu uns send,
mit Hilf und Gnad er uns regier
und uns den Weg zur Wahrheit führ.
2. Tu auf den Mund zum Lobe dein,
bereit das Herz zur Andacht fein,
den Glauben mehr, stärk den Verstand,
dass uns dein Nam werd wohlbekannt,
3. bis wir singen mit Gottes Heer:
»Heilig, heilig ist Gott der Herr!«,
und schauen dich von Angesicht
in ewger Freud und sel’gem Licht.
4. Ehr sei dem Vater und dem Sohn,
dem Heilgen Geist in einem Thron;
der Heiligen Dreieinigkeit
sei Lob und Preis in Ewigkeit.
Text: Wilhelm II. von Sachsen-Weimar (?) 1648; Str.4 Gotha 1651
Melodie: Gochsheim/Redwitz 1628, Görlitz 1648
Satz: Gotha 1651